MT Wann ist eine Europäische Vertragsverletzungsklage zulässig?


Der Gerichtshof der Europäischen Union hat für Vertragsverletzungsklagen die ausschließliche Zuständigkeit. Die aktive Parteifähigkeit liegt vor, wenn nach Auffassung der Kommission ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat. Dann gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme hierzu ab und sie hat dem Staat zuvor Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Erst wenn der Staat dieser Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nachkommt, kann die Kommission den Gerichtshof der Europäischen Union anrufen. Im Staatenklageverfahren sind die Mitgliedstaaten hingegen immer aktiv parteifähig.

Passiv parteifähig, also fähig, die beklagte Partei eines Rechtsstreits zu sein, sind in beiden Verfahren allein die Mitgliedstaaten, denen das Verhalten ihrer staatliche Organe, beispielsweise Behörden oder Gerichte, und ihrer Gebietskörperschaften, also zum Beispiel die Länder, Kreise, Gemeinden oder Städte, zugerechnet wird. Verfahrensgegner sind daher weder die staatlichen Organe, noch die einzelnen Gebietskörperschaften, deren Verfahren gerügt wird. Es sind vielmehr ausschließlich die Mitgliedstaaten, denen das Verhalten zugerechnet wird. Ein Vorverfahren muss durchgeführt werden, bevor das Vertragsverletzungsverfahren gestartet wird. Dadurch sollen die mit dem Vertragsverletzungsverfahren einhergehenden Anprangerungen des vertragsbrüchigen Mitgliedstaats nach bester Möglichkeit verhindert werden.

Die Kommission erlässt in diesem Rahmen eine mit Gründen versehene Stellungnahme und gibt den beteiligten Staaten zuvor Gelegenheit zu schriftlicher und mündlicher Äußerung in einem kontradiktorischen Verfahren. Wenn die Kommission binnen drei Monaten nach dem Zeitpunkt, in dem ein entsprechender Antrag gestellt wurde, keine Stellungnahme abgibt, dann erst kann ungeachtet des Fehlens der Stellungnahme vor dem Gerichtshof der Europäischen Union geklagt werden. Das Vorverfahren soll die einvernehmliche Beseitigung des beanstandeten Verhaltens unter möglichster Schonung der Souveränität des Mitgliedstaates und die Vermeidung von gerichtlichen Auseinandersetzungen ermöglichen.

Neben der souveränitätsschonenden Seite kommt dem Vorverfahren die wichtige Funktion der Einbegrenzung des gerichtliches Streitstandes zu. Scheitert nämlich die einvernehmliche Streitbeilegung, bestimmt der mit dem Mahnschreiben der Kommission festgelegte Gegenstand des Vorverfahrens den Streitgegenstand des anschließenden Vertragsverletzungsverfahrens vor Gericht. Diese beiden Verfahrensschritte sind also über die Identität des vorgerichtlichen Verfahrensgegenstandes mit dem späteren gerichtlichen Streitgegensand verbunden. Dabei sind spätere Erweiterungen des Verfahrensgegenstandes beziehungsweise des Streitgegenstandes unzulässig. Es besteht jedoch die Möglichkeit in jedem Verfahrensstadium den Verfahrensgegenstand oder den Streitgegenstand einzuschränken.

Das Vorverfahren im Rahmen der Aufsichtsklage besteht aus drei Schritten. Zunächst wird ein Mahnschreiben an die Kommission geschickt, worauf eine Gegendarstellung des betroffenen Mitgliedstaates im zweiten Schritt folgt. Der dritte Schritt besteht aus einer begründeten Stellungnahme der Kommission. Die Zulässigkeit der Klageerhebung setzt dabei lediglich voraus, dass die Zustellung eines substantiierten, also die ordnungsmäßige Verteidigung des betroffenen Mitgliedstaates ermöglichenden Mahnschreibens, und die abschließende Stellungnahme der Kommission vorliegt. Es bleibt dem Mitgliedstaat dagegen freigestellt, zu den erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen, die Gegendarstellung stellt also keine Zulässigkeitsvoraussetzung dar.

Das Vorverfahren bei der Staatenklage stellt sich anders dar. Dieses ist ein kontradiktorisches Verfahren zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten unter zusätzlicher Beteiligung der Kommission. Der Kommission fällt dabei die Aufgabe einer Schiedsstelle und Pufferstelle zu. Auch das Vorverfahren bei der Staatenklage lässt sich in drei Schritte gliedern. Zunächst wird die Kommission durch Antrag eines Mitgliedstaates befasst. Dann folgt das kontradiktorische Verfahren vor der Kommission, das sich in einem mündlichen und einem schriftlichen Abschnitt gliedern lässt. Schließlich nimmt die Kommission eine abschließende Stellungnahme vor. Teilweise wird vom Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgesehen, dass von dem regulären Vertragsverletzungsverfahren abgewichen werden soll. So kann die Kommission oder ein Mitgliedstaat den Gerichtshof der Europäischen Union unmittelbar anrufen, wenn die Kommission oder der Mitgliedstaat der Auffassung ist, dass ein anderer Mitgliedstaat bestimmte Befugnisse missbraucht. Auch kann die Kommission oder jeder betroffene Staat, wenn der betreffende Staat dem einschlägigen Beschluss innerhalb der festgesetzten Frist nicht nachkommt, den Gerichtshof der Europäischen Union unmittelbar anrufen.

Der Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahren bei der Staatenklage ist die Behauptung der Kommission oder eines Mitgliedstaats, ein anderer Mitgliedstaat habe gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen. Dabei wird zwar durch die Formulierung aus den Verträgen die Vermutung nahegelegt, dass lediglich das primäre Unionsrecht, also der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und der Vertrag über die Europäischen Union, gemeint ist. Allerdings sind vom Prüfungsmaßstab für staatliches Verhalten auch Verstöße gegen das gesamte Recht der Europäischen Union umfasst. Also damit auch Verstöße gegen Sekundärrecht. Ein solcher kann beispielsweise gegen eine Richtlinie oder einen Beschluss geschehen. Zudem sind auch Verstöße gegen Bestimmungen des Völkerrechts umfasst. Dies allerdings nur soweit diese im Rahmen des Unionsrechts anwendbar sind und für die Mitgliedstaaten bindend sind.

Verstöße gegen intergouvernementale Beschlüsse der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten hingegen unterliegen nicht dem Vertragsverletzungsverfahren. Sie werden nämlich im völkerrechtlichen Raum außerhalb des Rechts der Europäischen Union begangen. Der Gerichtshof der Europäischen Union ist aber nicht zuständig für die Bestimmungen hinsichtlich der Gemeinsamen Außenpolitik und Sicherheitspolitik und für die auf der Grundlage dieser Bestimmungen erlassenen Rechtsakte. Verstöße gegen solche Vorschriften können also auch nicht im Vertragsverletzungsverfahren geltend gemacht werden. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union sieht für die Kommission nach Abgabe der begründeten Stellungnahme keine Frist zur Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Union vor.

Das Entschließungsermessen der Europäischen Kommission, ob sie ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet oder nicht, erstreckt sich dabei auch auf den Zeitpunkt der Klageerhebung. Der betroffene Mitgliedstaat kann also nicht etwa darauf vertrauen, dass mit einer Klageerhebung nicht mehr zu rechnen ist, wenn der Stellungnahme der Kommission nicht binnen kurzer Zeit auch eine Klageerhebung folgt. Es kommt jedoch ausnahmsweise eine Verwirkung des Klagerechts in Betracht, wenn die Kommission nach Abschluss des Vorverfahrens unangemessen lange und somit rechtsmissbräuchlich mit der Klageerhebung wartet. Dies ist insbesondere dann rechtsmissbräuchlich, wenn kein sachlicher Grund dafür besteht, insbesondere die Suche nach einer diplomatischen Lösung, der die Verzögerung der Klageerhebung rechtfertigt. Zudem muss ein Rechtschutzbedürfnis bestehen und die einschlägigen Fristen eingehalten werden.

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