Was versteht man unter Acte-clair und Acte éclairé?


Das Vorabentscheidungsverfahren, in dem die Gerichte der Mitgliedstaaten den Gerichtshof der Europäischen Union um die Vorabklärung einer Rechtsfrage ersuchen können, wirft die Rechtsfrage nach der Acte-clair Doktrin auf. Im Hinblick auf rechtsmittelfähige Entscheidungen haben die nationalen Gerichte zwar ein Recht, aber keine Pflicht zur Vorlage einer Gültigkeits- oder Auslegungsfrage. Eine Verpflichtung zur Vorlage ist nur dann gegeben, wenn sich eine solche Frage in einem laufenden Verfahren vor einem Gericht stellt, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden können. Dabei ist es irrelevant, ob die Frage entscheidungserheblich ist, ob sich die Antwort darauf bereits aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union ergibt oder ob sie überhaupt Anlass zu Zweifeln gibt. Eine solche Vorlegungspflicht, die quasi jeden Rechtsfall erfasst, scheint allerdings aus vielerlei Gesichtspunkten wenig praxistauglich und sinnvoll. Ein Vorabentscheidungsersuchen sollte nur bei Vorliegen einer echten Schwierigkeit in Erwägung gezogen werden. Einerseits würde der Gerichtshof der Europäischen Union in seiner Funktions- und Arbeitsfähigkeit fast vollends eingeschränkt werden, da er sich mit der enormen Menge an Vorlagen beschäftigen müsste, andererseits ist ein in fast allen Fragen verbindliches Vorabentscheidungsverfahren und die damit verbundenen Kosten und der zusätzliche Zeitaufwand auch nicht mit dem Interesse der Parteien zu vereinbaren. ?Aus diesem Grund wird die Vorlagepflicht dergestalt eingeschränkt, dass eine Vorabentscheidungsfrage zur Auslegung des Unionsrechts nicht vorzulegen ist, wenn die Antwort darauf für das Ausgangsverfahren nicht entscheidungserheblich ist. Das Prozessgericht muss nicht schon allein deshalb eine Rechtsfrage dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlegen, weil eine Verfahrenspartei geltend macht, der Rechtsstreit werfe eine gemeinschaftsrechtliche Auslegungsfrage auf. Es obliegt vielmehr dem Prozessgericht selbst, den Gerichtshof der Europäischen Union anzurufen. Im Rahmen dieser Vorlagekompetenz der nationalen Gerichte hat die Rechtsprechung zwei Ausnahmen von der Vorlagepflicht entwickelt. Ein letztinstanzliches Gericht ist dann nicht zur Vorlage verpflichtet, wenn der Gerichtshof die Rechtslage schon in einem anderen Fall geklärt hat. Selbst, wenn die bereits beantwortete Frage nicht vollständig mit der sich dem letztinstanzlichen Gericht stellenden Frage übereinstimmt, muss das Gericht die Frage nicht dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlegen, sofern die Rechtslage als durch die Entscheidung des Gerichtshofs im vorherigen Fall zweifelsfrei geklärt angesehen werden kann. Dies bezeichnet man als Acte éclairé. Die zweite Ausnahme bezieht sich auf Auslegungsfragen, die zwar noch nicht vom Gerichtshof beantwortet worden sind, bei denen aber kein vernünftiger Zweifel an der Antwort besteht. Dabei handelt es sich dann um einen Acte clair. Ein vernünftiger Zweifel ist dabei unter Berücksichtigung objektiver Kriterien, insbesondere der Eigenheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung und ihrer Auslegung im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und der Rechtsprechung der mitgliedsstaatlichen Gerichte zu beurteilen.

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