MT Normenhierarchie im Primärrecht der Europäischen Union


Kollisionsregeln in einem Normensystem ordnen Normsetzungsentscheidungen einander zu und stellen einen Bezug zwischen ihnen her. Grundsätzlich ist dabei eine Hierarchie erforderlich, da heutige Rechtssysteme nur mit einer Vielzahl von Normen funktionieren und ihren Zweck erfüllen können. Dabei wird das Problem im europäischen Rahmen noch dadurch verstärkt, dass mehrere Verbände föderal verspannt werden. Anwendung finden die normhierarchischen Regeln meistens bei Kompetenzüberlappungen, denn in Bereichen trennscharfer Abschichtung von Zuständigkeiten können im Idealfall erst gar keine Normkonflikte entstehen. Zwei grundsätzliche Kollisionsregeln bilden die sogenannte „lex posterior derogat legi priori“ Regel, wonach das später erlassene Gesetz dem früher erlassenen vorgeht und die „lex superior derogat legi inferiori“ Regeln, welche besagt, dass höherrangiges Recht niederrangigem Recht vorgeht. Dabei zeigt sich vor allem beim lex posterior Grundsatz, dass es sich bei Kollisionsfragen oft nicht um eine Frage der Logik handelt, sondern vielmehr um eine funktionale Frage.

Einheitlicher Rang des Vertragsrechts

Auf der Ebene des europäischen Primärrechts gibt es keine normhierarchischen Abstufungen. Alle Bestimmungen des Vertragsrechts stehen auf gleicher Stufe. Es wird also auch keine Unterscheidung zwischen wichtigeren und unwichtigeren, generelleren und konkreteren Normen getroffen. Zum Primärrecht und damit auch zum einheitlichen Rang des Vertragsrechts gehören auch die in den Beitrittsverträgen enthaltenen Bestimmungen und die Bestimmungen der Protokolle. Eine Abstufung der Vorschriften ist beim Abgleich von Vertragsnormen, die einander zuwiderlaufen, durch eine Differenzierungen nach Gewicht und Stellung im Korpus des Vertragsrechts möglich. Hierdurch wird aber keine Vorrangstellung bestimmter Normen begründet. Im Recht der Europäischen Union gibt es insbesondere keine Unterscheidung zwischen der historisch ersten Verfassung und Vertragsänderungen, was der lex posterior Regel entsprechen würde. Aus diesem Grund haben sämtliche Bestimmungen ungeachtet des Zeitpunktes ihres Entstehens den gleichen Rang und beanspruchen die gleiche Legitimität. Allerdings haben die vertragsändernden Regelungen derogierende Kraft in Bezug auf die im regulären Vertragsänderungsverfahren erlassenen Regelungen. Auch ist im Recht der Europäischen Union keine normhierarchische Unterscheidung aufgrund der Wichtigkeit und Bedeutung für den Integrationsprozess zu treffen.

Die Europäische Union besitzt besondere Grundsätze wie Freiheit, Demokratie, die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie die Rechtsstaatlichkeit. Die Beachtung dieser Grundsätze ist Bedingung für einen Beitritt in die Europäische Union. Die Europäische Union besitzt auch Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Mitgliedstaaten, die diese Grundsätze schwerwiegend verletzen. Hieraus wird teilweise abgeleitet, dass materielle Kriterien, die zur Beitrittsvoraussetzung gemacht und zum Gegenstand einer Sanktionskompetenz geworden sind, als besondere Grundsätze des Unionsrechts und als Kernprinzipien des europäischen Verfassungsverbundes anzusehen seien und deshalb einen hervorgehobenen, qualitativ unterscheidbaren Rang einnehmen müssten. Der Schluss, dass Wichtiges Vorrang haben müsste, ist allerdings methodisch unzulässig. Dies würde die Mitgliedstaaten aus ihrer Rolle als Herren der Verträge drängen und wäre damit mit der Grundkonzeption staatlicher Souveränität unvereinbar. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Primärrecht grundsätzlich eine einheitliche Rechtsmasse bildet, die in sich keinen qualitativen Differenzierungen zugänglich ist. Damit kommen für die Auflösung von Normenkollisionen lediglich teilweise die Grundsätze der „lex posterior“-Regel und der „lex specialis“-Regel, wonach ein spezielleres Gesetz Vorrang vor einem allgemeineren Gesetz genießt, zur Anwendung. Vor der Anwendung dieser Regeln ist jedoch jeweils zu prüfen, ob nicht durch wechselbezügliche Konkretisierung eine Kollision vermieden werden kann.

Derogationswirkung

Das Primärrecht genießt grundsätzlich Vorrang vor dem durch die Unionsorgane geschaffenen Sekundärrecht. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Vertrag die Organe ermächtigt, Rechtshandlungen vorzunehmen und somit Sekundärrecht zu schaffen. Notwendigerweise muss deshalb das organgeschaffene Recht nachrangig gegenüber der Ermächtigungsnorm sein. Auch sind Rechtsakte der Unionsorgane im Fall ihrer Mehrdeutigkeit so auszulegen, dass sie mit den primärrechtlichen Bestimmungen vereinbar sind. Anderes gilt bei Rechtsgrundsätzen, die lediglich Lückenschließungsfunktion haben. Diese kommen zur Anwendung, wenn und soweit der sekundärrechtliche Gesetzgeber eine meist verwaltungs- oder verwaltungsverfahrensrechtliche Angelegenheit nicht geregelt hat. Als Beispiel hiefür seien etwa die Grundsätze über den Widerruf oder die Rücknahme von Verwaltungsakten oder verwaltungsrechtliche Rückforderungsansprüche genannt. Allgemeine Rechtsgrundsätze dieser Art sind zwar Primärrecht, entfalten aber gegenüber kollidierendem Sekundärrecht keine Derogationswirkung. Dies bedeutet aber nicht, dass die Derogationswirkung aufgehoben wurde. Sie ist lediglich zurückgenommen.

Zur Frage nach den Rechtsfolgen der derogativen Wirkung gehört das Problem, ob die Derogationsfolgen im Falle der Kollision von höherrangigem mit niederrangigem Recht ipso iure, also von selbst, eintreten oder ob es eines konstitutiven Aktes öffentlicher Gewalt bedarf. Im Rahmen dieser Problematik wird auch die Frage diskutiert, ob sich die Derogationswirkung höherrangigen Rechts mit Wirkung ex nunc oder mit Wirkung ex tunc, das bedeutet rückwirkend, entfaltet. Zur ersten Frage lässt sich sagen, dass die Vertragsgeber selbst davon ausgingen, dass es eines konstitutiven Aktes des Gerichtshofs der Europäischen Union bedarf, um die Derogationswirkung von Primärrecht zum Tragen zu bringen, womit im Endeffekt keine ipso iure Wirkung nahegelegt wird. Der Gerichtshof der Europäischen Union trifft seine Entscheidungen grundsätzlich ohne Rückwirkung, also ex nunc, wobei es ihm allerdings offen steht, in besonderen Fällen, in denen es mit Blick auf die seit Normerlass eingetretenen Geschehnisse sinnvoll erscheint, die Anordnung ex tunc zu treffen.

Direktivwirkung

Eine Normkollision beziehungsweise ein Normkonflikt kann nicht nur im Verhältnis zwischen Normen verschiedener Ebenen gesehen werden, sondern auch in einer Wechselwirkung zwischen den Normen. Dabei geht es um die Frage systematischer Interpretation. Diese kann allerdings nur in bestimmten Fällen auftreten, wie zum Beispiel wenn es darum geht, ob primärrechtliche Vorgaben den vom Sekundärrecht eröffneten Auslegungsspielraum begrenzen. Für die Beantwortung der Frage ist zunächst maßgeblich, inwieweit man die Unionsrechtsordnung als ein Gebilde begreift, in dem oberste Normen, Werte und Ziele auf alle Ebenen ausstrahlen und dort Bindungswirkung entfalten. Dazu lässt sich feststellen, dass der Gerichtshof der Europäischen Union in einer Vielzahl seiner Urteile Sekundärrecht mit Blick auf die vertraglichen Ziele Interpretiert, diese also ausstrahlende Wirkung entfalten.

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