Sekundärrechtsberücksichtigende Auslegung des Primärrechts


Eigentlich schließt es sich nach oben Gesagten aus, eine interpretative Rückwirkung des Sekundärrechts auf die Interpretation des Primärrechts anzunehmen. Es erscheint unlogisch den Einfluss einer Norm auf eine höherrangige Norm anzunehmen, von der diese abgeleitet wurde. Es stellt sich allerdings auch die Frage, ob es für die Interpretation einer Norm gleichgültig ist, wie sie ein nachgeordneter Entscheidungsträger bei der Ausfüllung seiner Kompetenzen begreift. Der Gerichtshof der Europäischen Union bezieht deshalb bei der Interpretation des Primärrechts mit ein, welches Verständnis und Gewicht der Gesetzgeber dem Primärrecht beigemessen hat. Um dies zu gewährleisten gleicht der Gerichtshof der Europäischen Union das gefundene Interpretationsergebnis mit dem Verständnis des unionalen Gesetzgebers ab, um dort eine Bestätigung zu finden. Allerdings befindet sich der Gerichtshof der Europäischen Union nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zum politischen Willen der Mitgliedstaaten. Die Interpretation des Primärrechts geht nämlich über den in sekundärrechtlicher Normgebung zum Ausdruck gebrachten Integrationswillen hinaus.

Das Primärrecht kann sich dem Sekundärrecht auch auf tatbestandlicher Seite öffnen. Ein Beispiel dafür ist Art. 18 des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft, der eine ausdrückliche Rücknahme darstellt. Art. 18 räumt jedem Unionsbürger ein, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Eine indirekte Rücknahme erfolgt etwa dort, wo es um das Verhältnis zu Grundfreiheiten geht. Die in den Grundfreiheiten angelegte Entscheidung, mitgliedstaatliche Beeinträchtigungen hinzunehmen, wenn sich hierfür hinreichend gewichtige Rechtfertigungsgründe finden, steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass nicht bereits eine sekundärrechtliche Harmonisierung erfolgt ist. Im Hinblick auf das Verhältnis von Primärrecht und Grundfreiheiten lässt sich grundsätzlich sagen, dass das Primärrecht seinen Regelungsanspruch gänzlich zurücknimmt, wenn es auf kollidierendes Sekundärrecht stößt. Trotzdem dürfen die Grundrechte aber nicht voll ausgehebelt werden und ihre Wirkung verlieren.

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