Normenhierarchie im Sekundärrecht der Europäischen Union


Der Aufbau des Sekundärrechts lädt zwar einerseits wegen der Vielschichtigkeit der Handlungsinstrumente, der enormen Anzahl an beteiligten Organe sowie der Ausdifferenzierung der Entscheidungsverfahren dazu ein, an eine Normhierarchie zu denken. Andererseits erschwert gerade diese Vielzahl an Unterscheidungs- und Differenzierungsmöglichkeiten, welche mittlerweile schon chaotische Gestalt angenommen haben, Schnitte zu ziehen, wie sie für normhierarchisches Denken nötig sind und um eine Art Normpyramide aufzustellen.

Hierarchien innerhalb des Sekundärrechts

Zunächst gilt zu oben Gesagtem hinzuzufügen, dass eine Hierarchisierung des Sekundärrechts auch deshalb schwerfällt, weil der Grundsatz, wonach gleichartige und legitimatorisch gleichwertige Akte von den jeweils gleichen Entscheidungsträgern im gleichen Verfahren erlassen werden müssen, auf der Ebene der Europäischen Union nicht existiert. Auch ist eine Unterscheidung zwischen der Rechtssetzung legislativer und exekutiver Organe nur schwer vorzunehmen. Dieses Normenchaos ist historisch gewachsen und ist Ausdruck der Ziele, Werte und Interessen, die ohne Sinn für die Notwendigkeit einer inneren Ordnung verabschiedet wurden.

Es wurden Überlegungen angestellt, eine Differenzierung in Bezug auf die beteiligten Organe vorzunehmen, die man je nach Stellung und Legitimität unterscheiden kann. Demnach hätte das Parlament der Europäischen Union ein größeres Gewicht bekommen als die Kommission. Eine solche Unterscheidung erscheint allerdings gerade in Hinblick darauf, dass Rat, Parlament und Kommission wechselseitig in das Rechtssetzungsverfahren eingebunden sind, wenig sinnvoll. Da das System der Europäischen Union nicht mit dem einer parlamentarischen Demokratie vergleichbar ist, wäre es verfehlt, mit einem solchen Gedanken an die Europäische Union heranzutreten. So nimmt beispielsweise die eher schwach legitimierte Kommission zwar eine eigenartige, zugleich aber unverzichtbare Funktion wahr. Ebenso wenig lässt sich mit Blick auf das System, das eine Zwischenform zwischen einem völkerrechtlich geprägten Zweckverband und einem unmittelbar parlamentarisch legitimierten Hoheitsverband darstellt, eine Höherrangigkeit des Parlaments gegenüber dem Rat behaupten. Es besteht auch Einigkeit darüber, dass zwischen den Entscheidungsorganen der Union keine institutionelle Hierarchie des Inhalts besteht, dass beispielsweise Rechtsakte des Rates oder des Rates und des Parlaments höher einzuordnen wären als Rechtsakte der Kommission.

Eine weitere Differenzierungsmöglichkeit bestünde darin, eine normhierarchische Stufung auf Grundlage der verschiedenen Verfahrensarten vorzunehmen. Auch dies erscheint aber in der Praxis wenig sinnvoll, denn es ist nicht möglich, Normen, die unter parlamentarischer Zustimmung zustande gekommen sind, einen höheren Rang zuzuschreiben als solchen, die ohne Zustimmung des Parlaments der Europäischen Union erlassen wurden. Des Weiteren lässt sich nicht von einem Grundsatz des Vorrangs des komplexeren Verfahrens sprechen.
Eine dritte Differenzierungsmöglichkeit ergibt sich aus einer Hierarchie der verschiedenen Rechtsakttypen. Es gibt insgesamt fünf Handlungsformen, die die Einrichtungen der Europäischen Union auf der Grundlage der Verträge erlassen können. Dazu gehören Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen sowie noch weitere, nicht im Vertrag beschriebene Rechtshandlungen wie zum Beispiel Beschlüsse, Entschließungen und Mitteilungen. Dabei gibt die Reihenfolge der Aufzählung im Vertrag keine Auskunft über ein allgemeines Überordnungsverhältnis und Unterordnungsverhältnis der Handlungsformen und welcher Rechtsakttyp höher zu bewerten ist.

Schließlich stellte sich in Fällen, in denen der unionale Normgeber von der Möglichkeit der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen Gebrauch macht, die Frage nach dem Verhältnis von ermächtigendem Akt und Durchführungsakt. Problematisch erscheint hier allerdings schon am Anfang, dass ermächtigender Akt und Durchführungsakt häufig gleichen Typs sind. Zwar ist ein Durchführungsakt ungültig, wenn nicht die institutionellen, prozeduralen und materiellen Vorgaben des Ermächtigungsaktes beachtet werden, dies bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass erfolgreiche Durchführungsrechtsetzung im Rang unterhalb der Ermächtigungsnorm liegen muss. Ein Vergleich zum Verfassungsänderungsverfahren verdeutlich dies. Dem von der Verfassung eingesetzten Gesetzgeber kann nämlich die Kompetenz eingeräumt sein, Normen mit Verfassungsrang zu schaffen und so die Verfassung selbst zu ändern.

Als Ergebnis lässt sich also festhalten, dass sekundäres Unionsrecht als einheitlicher Rechtskorpus anzusehen ist. Folge davon ist eine uneinheitliche Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, in der sich keine klaren Leitlinien erkennen lassen. Zwar lassen sich mit dem Grundsatz der lex posterior Regel mache Normkollisionen lösen. Dies gilt beispielsweise bei Kollisionen von Rechtsnormen, die von gleicher Handlungsform sind. Probleme entstehen aber dergestalt schon dann, wenn die später erlassene Norm allgemeiner als die früher bestehende spezielle Norm ist, dass unklar ist, ob der lex specialis Grundsatz eingreift, nach dem die speziellere Regelung Vorrang genießt, oder die später erlassene Norm vorgeht. Weitere Problemen bestehen dann, wenn die geltende Norm generellen und fundamentalen Charakter hat, die später erlassene Norm demgegenüber konkret und in ihrer Bedeutung geringgewichtiger ist.

Sekundärrecht und Völkerrecht

Völkerrechtliche Abkommen, die von der Europäischen Union geschlossen wurden, stehen im Rang unterhalb des Primärrechts. Sie nehmen dabei den Rang zwischen Primärrecht und Sekundärrecht ein.

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