Die Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten eines Mitgliedsstaates


Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Parlaments, der Europäischen Union oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Parlaments der Europäischen Union feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der Europäischen Union durch einen Mitgliedstaat besteht. Die Werte, auf die sich die Europäische Union dabei beruft, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet. Der Rat hört, bevor er eine solche Feststellung trifft, den betroffenen Mitgliedstaat an und kann Empfehlungen an ihn richten, die er nach demselben Verfahren beschließt.

Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Parlaments der Europäischen Union kann der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Werte der Europäischen Union durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat. Wenn dann die Feststellung getroffen wurde, kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat. Dabei müssen aber die möglichen Auswirkungen einer solchen Aussetzung auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen berücksichtigt werden. Die sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen des betroffenen Mitgliedstaats sind für diesen allerdings auf jeden Fall weiterhin verbindlich.

Der Entzug der Stimmrechte im Rat wird dabei auch zwingend auf die Europäische Atomgemeinschaft erstreckt. Es können dabei gemäß des Vertrages zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft auch weitere, auf diesen Vertrag beruhende Rechte des betreffenden Mitgliedstaats ausgesetzt werden. Die genauen Abstimmungsmodalitäten regelt der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Demnach wird für die Zwecke des Verfahrens über die Aussetzung bestimmter mit der Zugehörigkeit zur Europäischen Union verbundener Rechte das Mitglied des Europäischen Rates oder des Rates, das den betroffenen Mitgliedstaat vertritt, seiner Stimmberechtigung entzogen und der betreffende Mitgliedstaat wird bei der Berechnung des Drittels oder der vier Fünftel der Mitgliedstaaten nicht berücksichtigt. Die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitgliedern steht dem Erlass von Beschlüssen allerdings nicht entgegen.

Für den Erlass eines Suspendierungsbeschlusses bestimmt sich die qualifizierte Mehrheit grundsätzlich dergestalt, dass, wenn der Rat nicht auf Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik beschließt, als qualifizierte Mehrheit eine Mehrheit von mindestens 72 % derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, sofern die von ihnen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen. Eine Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitgliedern steht dem Zustandekommen von Beschlüssen des Rates dabei nicht entgegen.

Materiellrechtlich setzt die einschlägige Vorschrift des Vertrags über die Europäische Union eine schwerwiegende und dauerhafte Verletzung einer der im Vertrag über die Europäische Union genannten Homogenitätsgrundsätze durch einen Mitgliedstaat voraus. Wenn die Verwirklichung einer dieser Grundsätze in seinem Kerngehalt oder Wesensgehalt in Frage gestellt wird, dann kann die geforderte Schwere angenommen werden. Eine einmalige und kurzfristige Verletzung eines der Grundsätze kann demnach kein Suspendierungsverfahren auslösen, da eine anhaltende Verletzung gefordert wird. Bei einem Suspendierungsverfahren ist der Rat an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Zudem sind die möglichen Auswirkungen eines Suspendierungsbeschlusses auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen zu berücksichtigen. Der Rat kann auch zu einem späteren Zeitpunkt mit qualifizierter Mehrheit beschließen, eine solche getroffene Maßnahmen abzuändern oder aufzuheben, wenn in der Lage, die zur Verhängung dieser Maßnahmen geführt hat, Änderungen eingetreten sind.

Durch den Vertrag von Nizza wurden Bestimmungen in den Vertrag über die Europäische Union eingeführt, die sogenannte Vorfeldmaßnahmen ermöglichen, bevor ein Suspendierungsverfahren eingeleitet wird. Dies geschah vor dem Hintergrund des Einfrierens der jeweiligen bilateralen Beziehungen zwischen 14 Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Bundesrepublik Österreich im Jahre 2000 wegen der Beteiligung der rechtskonservativen FPÖ an der österreichischen Regierung. Danach kann auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, des Parlaments der Europäischen Union oder der Kommission der Rat mit einer vier fünftel Mehrheit seiner Mitglieder nach Zustimmung des Parlaments der Europäischen Union feststellen, dass eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung einer der Grundsätze der Europäischen Union durch einen Mitgliedsstaat besteht und an diesen Mitgliedstaat die geeignete Empfehlung richten. Bevor er jedoch eine solche Feststellung trifft, hört der Rat den betroffenen Mitgliedstaat an. Die erst durch den Vertrag von Nizza eingeführte Möglichkeit im Rahmen von Vorfeldmaßnahmen unabhängige Persönlichkeiten zu beauftragen, einen Bericht über die Lage in einem Mitgliedstaat vorzulegen, ist durch den Vertrag von Lissabon wieder gelöscht worden.

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit eines von der Europäische Union erlassenen Rechtsakts des Europäischen Rates oder des Rates nur auf Antrag des von einer Feststellung des Europäischen Rates oder des Rates betroffenen Mitgliedstaats und lediglich im Hinblick auf die Einhaltung der in dem genannten Artikel vorgesehenen Verfahrensbestimmungen zuständig. Nicht überprüfbar sind demnach die materiellen Voraussetzungen einer Suspendierungsentscheidung. Das bedeutet, dass nicht nachgeprüft werden kann, ob tatsächlich eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Grundsätze des Vertrags über die Europäische Union vorliegt. Der Antrag muss binnen eines Monats nach der jeweiligen Feststellung gestellt werden. Der Gerichtshof entscheidet binnen eines Monats nach Antragstellung.

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