Gibt es eine Europäische Identität?


Der Vertrag über die Europäische Union verwendet den unscharfen Begriff Identität in zweierlei Hinsicht: In Bezug auf Europa und in Bezug auf die einzelnen Nationen. Dabei zerfällt das jeweilige Identitätssubjekt Europa beziehungsweise seine Nationen seinerseits jeweils in Teilsubjekte, nämlich einerseits in Europa im engeren Sinne, die Europäsche Union und Europa im weiteren Sinne als geographische Bezeichnung. Identität der Europäischen Union und Europa-Identität decken sich demnach nicht.

In der Präambel des Vertrages über die Europäische Union ist von der Überlegung die Rede, durch eine Gemeinsame Außenpolitik und Sicherheitspolitik die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern. Schon hier ist der gesamte Kontinent gemeint, da der Vertrag über die Europäische Union im Falle einer geografisch-normativen Beschränkung den Begriff Union verwendet hätte. Zu den im Vertrag über die Europäische Union aufgeführten Zielen der Union gehört es auch die Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene durch eine Gemeinsame Außenpolitik und Sicherheitspolitik zu wahren.

Die Union ist allerdings auch auf die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten bedacht. Sie respektiert in der Präambel die Geschichte ihrer Völker, ihre Kultur und ihre Traditionen. Sie zielt damit also auf Achtung der Staatlichkeit ihrer Mitglieder und auf Respekt vor deren individuellem nationalem Gefüge ab. Die Mitgliedstaaten als solche bleiben in der Tat unentbehrlich für die Funktionsfähigkeit der Europäischen Union, was sich zum Beispiel bei der Finanzierung und im Verwaltungsvollzug zeigt, für die Legitimation beispielsweise in parlamentarisch-demokratischer Hinsicht und für das Voranschreiten der Europäischen Integration mittels Vertragsanpassung und Erweiterung.

Das an die Europäische Union gerichtete Gebot, die nationale Identität etwa der Bundesrepublik Deutschland zu achten, das auch nochmals im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon bekräftigt wurde, schützt mittelbar zwar nur die Substanz des verfassungsstaatlichen Gefüges dieses Mitgliedstaates der Europäischen Union, also zum Beispiel nicht die Details der öffentlich-rechtlichen Rundfunkordnung oder die jeweilige Handwerksordnung. Zweifellos wird aber dessen bundesstaatliche Struktur gewährleistet. Föderale Unterstrukturen wie die Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland etwa dürfen weder im Gesamtstaat Bundesrepublik Deutschland noch in der Europäischen Union aufgelöst werden. Eine föderale Ausrichtung der Europäischen Union, die etwa auch in den Beneluxländern zunehmend Anhänger findet, zwänge Frankreich oder das Vereinigte Königreich nicht zur Selbstföderalisierung.

Denkbar wäre eine Art hinkender Europäischer Föderalismus, näher ausgestaltet nur bei ohnehin schon föderalisierten oder regionalisierten Mitgliedstaaten. Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe der Europäischen Union ließen sich auf diesem Wege stärken: Föderalismus als komplementäres Element von Rechtsstaat und Demokratie. Jakobinische Traditionen in Frankreich, englisch-schottisch-walisische Spannungen im Vereinigten Königreich sowie Desintegrationsängste in Italien und Spanien dürften bis auf weiteres ein nennenswertes Föderalisieren der Europäischen Union verhindern. Der geschichtlich belegte demokratiefördernde Aspekt des Föderalismus verdiente in den zahlreichen Reformdiskussion zur Europäischen Union mehr Beachtung.

Wenn im Vertrag über die Europäische Union von Identität die Rede ist, zielt dies darauf ab, die Unabhängigkeit, Sicherheit und Eigenständigkeit Europas nach außen zu stärken und dies durchaus auch über die Außengrenzen der Union zu kommunizieren. Damit wird auch zur Hebung eines europäischen Identitätsbewusstseins beigetragen.

Kommt es zu Konflikten zwischen den beiden Dimensionen der Identität, ist meist der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außenpolitik und Sicherheitspolitik der Leidtragende. Die Behauptung der Identität Europas auf internationaler Ebene, etwa bei der Bewältigung regionaler Konflikte in Libyen, tritt dann hinter die den Mitgliedstaaten und deren nationale Identität zurück. Dies verdeutlicht, dass die mitgliedstaatliche, nationale, Identität bereits real existiert. Sie ist, wie etwa auch die nach wie vor im Wesentlichen national fraktionierte öffentliche Meinung und parteipolitische Struktur lebendig.

Die auf dem Gipfel der Staatschefs und Regierungschefs von Nizza am 7. Dezember 2000 vom Europäischen Rat gebilligte und vom Parlament der Europäischen Union, dem Rat und der Kommission feierlich proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union und die Aufnahme durch den Vertrag von Lissabon ist rechtlich verbindlich. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der eine Schlüsselrolle bei der Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen besitzt. Die stark von der Europäischen Menschenrechtskonvention inspirierte Charta, welche nun auch Teil des Rechts der Europäischen Union geworden ist bezieht sich in ihrer Präambel auf das geistig-religiöse Erbe der Union Europas, auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Hier wird, durch die gemeinsamen Grundwerte und Grundrechte, die europäische Identität vorgestellt.

Diese Identität ist als Zusammentreffen verschiedener Nationen aussagekräftig, weil sie die Europäische Union, entstanden auch aus der Bewältigung nationalistischer Spannungen und Staatsverbrechen, nicht antiuniversalistisch definiert. Das Europa der Grundrechtecharta, geprägt durch die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, ist trotz des im Vordergrund stehenden funktionalistischen Handelsansatz mehr als ein wirtschaftlich definierte Wirkungseinheit. Mit der Internationalisierung der Wirtschaft und den Umwälzungen im Währungsbereich, Verkehrsbereich, Kommunikationsbereich und Umweltschutzbereich sind weitere wichtige Integrationsfaktoren benannt, die ab Mitte der achtziger Jahre neben dem Binnenmarktkonzept auch dem Prozess der politischen Integration und gezielten Identitätsstärkung beflügelten.

Ähnliche Artikel

Durchsuchen Sie Rechtssartikel