MT Neuheit der Erfindung trotz Auswahl aus vorbekannten Bereichen


Das Erfordernis der Neuheit, das eine Erfindung, um patentierbar zu sein, erfüllen muss, ist grundsätzlich dann erfüllt, wenn die Erfindung nicht im maßgebenden Stand der Technik enthalten und für einen Fachmann auch nicht durch diesen Stand der Technik nahegelegt war. Dieser Grundsatz ist in bestimmten Bereichen jedoch aufgeweicht. So kann zum Beipiel auch eine solche Erfindung Neuheit aufweisen, die lediglich eine Kombination aus Elementen darstellt, die allesamt zum Stand der Technik gehören, in ihrer Kombination jedoch die Neuheit der Erfindung begründen. Des Weiteren wird in vielen Fällen versucht, die Neuheit einer technischen Lehre aus Merkmalen abzuleiten, die in einen größeren, schon in allgemeiner Form vorbeschriebenen Bereich fallen, ohne jedoch dabei ausdrücklich genannt zu sein. Es wird geltend gemacht, dass sich die Neuheit in derartigen Fällen aus der einschränkenden Auswahl ergebe. Auf diesem Gebiet ist sowohl die Rechtsprechung der deutschen Gerichte als auch diejenige des Europäischen Patentamts zu beachten.

Die deutsche Rechtsprechung

Der sogenannte Etikettiermaschinenfall betrifft eine Vorrichtung, für die im Stand der Technik angegeben war, dass bei zwei bestimmten kreisförmigen Elementen der Radius des einen kleiner als derjenige des anderen sein sollte. In diesem Fall hat der Bundesgerichtshof die besagte Vorrichtung als neu betrachtet, bei der der Radius des einen Kreises kleiner als derjenige des anderen, jedoch größer als dessen halber Radius war. Außerdem hat es der Bundesgerichtshof in früheren Fällen im Zusammenhang mit chemischen Stoffen nicht als neuheitsschädlich angesehen, dass eben diese chemischen Stoffe bereits in allgemeiner Form vorweggenommen waren. Insbesondere sah das Gericht es nicht als neuheitsschädlich an, dass die Stoffe bereits von einer durch eine Gruppenformel vorgeschriebenen Kategorie von Verbindungen umfasst waren. In einer späteren Entscheidung hat der Bundesgereichtshof es außerdem als die Neuheit einer Erfindung nicht ausschließend angesehen, dass eine chemische Verbindung unter eine vorveröffentlichte Formel fällt. Entscheidend sei nach Ansicht des Gerichts in diesem Zusammenhang allein, dass die Angaben einer vorveröffentlichten Druckschrift über eine Verbindung einen Fachmann ohne weiteres in die Lage versetzen, die diese betreffende Erfindung auszuführen.

Konkret müsse der Fachmann in der Lage sein, den betreffenden Stoff in die Hand zu bekommen. Bezüglich der allgemeinen Angabe „synthetische Ester“ hingegen hat der Bundesgerichtshof angenommen, dass einem Fachmann durch sie nicht die Erkenntnis vermittelt würde, dass gerade oder doch zumindest auch die speziellen Estern gemeint seien, für die Schutz beansprucht war. Der Bundesgerichtshof hat außerdem bezüglich der Bestimmung des Offenbarungsgehalts, in dessen Grenzen Anmeldungen geändert werden dürfen, klargestellt, dass es nicht darauf ankomme, ob eine durch Einschränkung eines Anspruchs definierte Erfindung in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen gegenüber gleichzeitig offenbarten anderen Lösungen als vorteilhaft, zweckmäßig oder bevorzugt bezeichnet ist. Unter Bezugnahme auf diese Feststellung wurde des Weiteren angenommen, dass diejenigen Mengenbereiche der Komponenten einer Legierung, die durch Grenzwerte definiert würden, sämtliche innerhalb der angegebenen Grenzen möglichen Variationen umfassten.

Dazu gehörten auch diejenigen Variationen, die nicht einmal einzeln zahlenmäßig ausdrücklich genannt seien, sofern nur die charakteristischen Eigenschaften der Legierung gewahrt blieben. Der Bundesgerichtshof ging hier davon aus, dass mit Angabe eines durch Grenzwerte definierten Bereichs gleichzeitig auch alle innerhalb der Grenzwerte liegenden Zwischenwerte sowie alle daraus beliebig gebildeten Teilmengen offenbart seien. Die dargestellten Entscheidungen haben auch Einfluss auf die Regeln betreffend die Prüfung der Neuheit einer Erfindung. Dies folgt daraus, dass sich die Bestimmung des die Zulässigkeit von Änderungen begrenzenden Offenbarungsgehalts einer Anmeldung nach denselben Maßstäben richte, wie der neuheitsschädliche Offenbarungsgehalts eines Dokuments. So enthalte nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die umfassende numerische Bereichsangabe eines Molekulargewichtsbereichs prinzipiell ebenfalls eine gleichermaßen umfassende Offenbarung aller denkbaren Unterbereiche. So ergab sich die Vorwegnahme des im angegriffenen Patent beanspruchten Bereichs von „15000-290000“ durch den in der Veröffentlichung offenbarten Bereich von „500-2000000“.

Die Rechtsprechung des Europäischen Patentamts

Das Europäische Patentamt ist der Auffassung, dass ein Stoff, dessen Zustandekommen sich aus der Umsetzung eines speziellen Paars zweier Ausgangsstoffe ergibt, die zwei verschiedenen Klassen angehören und die jeweils in einer Auflistung gewissen Umfangs zusammgestellt sind, im Sinne des Patentrechts als Auswahl und somit auch als neu angesehen werden könne. Dagegen offenbare eine Klasse chemischer Verbindungen, deren Definition anhand einer allgemeinen Strukturformel mit zumindest zwei variablen Gruppen erfolge, nicht unbedingt jede einzelne Verbindung, die sich aus einer Kombination aller möglichen Varianten innerhalb dieser Gruppen ergeben kann. Des Weiteren ist das Europäische Patentamt der Ansicht, dass ein bestimmtes als Bereich definiertes Verhältnis von Reaktionsparametern, welches bei einem vorgeschriebenen Herstellungsverfahren ausgewählt werde und welches zwar von der bekannten Lehre umfasst sei, jedoch nicht ausdrücklich genannt würde, grundsätzlich eine Erfindung sein könne.

Außerdem hat des Europäische Patentamt entschieden, dass ein größerer Zahlenbereich, der durch Eckwerte definiert sei, nicht zwingend gleichzeitig eine die Auswahl eines Teilbereichs ausschließende Offenbarung aller zwischen diesen Eckwerten liegenden Zahlenwerte darstelle. Voraussetzung sei allerdings zum einen ein enger ausgewählter Bereich und zum Anderen ein genügender Abstand zu demjenigen Bereich, der durch Beispiele belegt ist. Im konkreten Fall reichte der durch Eckwerte definierte Zahlenbereich von 0-100 Einheiten, während der ausgewählte Bereich von 0,02 bis 0,2 Einheiten reichte. Der durch Beispiele belegte Bereich reichte von 2 bis 13 Einheiten. Weiterhin schränkte das Europäische Patentamt ein, dass die Auswahl nicht willkürlich sein dürfe. Dazu müsse glaubhaft dargelegt werden, dass ein vorteilhafter Effekt nur im Auswahlbereich auftrete und deshalb eine gezielte Auswahl vorliege. Die Neuheit ergebe sich in einer solchen Konstellation jedoch keinesfalls aus dem Effekt. Sie werde vielmehr aus der Definition des Auswahlbereichs abgeleitet. Das Europäische Patentamt sah sich nicht durch den Umstand, dass im Stand der Technik durch Strukturformeln näher beschriebene Racemate offanbart waren, nicht daran gehindert, sogenannte D-Enantiomere als eine spezifische Raumform der Racemate als neu anzusehen.

Grundsätzlich bestehe zwar die Möglichkeit, dass Racemate in einer Vielzahl denkbarer Raumformen vorkämen, die auch tatsächlich im Racemate ungetrennt vorlägen. Jedoch seien die Raumformen nicht in individueller Form offenbart, solange sie nicht auch namentlich genannt seien und sich hieraus deren Herstellbarkeit ergebe. Das Europäische Patentamt geht davon aus, dass die Neuheit eines ausgewählten Bereichs dadurch zerstört werde, dass in der Vorbeschreibung Beispiele enthalten seien, die in dem ausgewählten Bereich liegen. Entsprechendes solle dann gelten, wenn die Werte der Ausführungsbeispiele einer Entgegenhaltung nur knapp außerhalb des beanspruchten Bereichs liegen und einem Fachmann die Lehre vermittelt wird, sodass es ihm möglich ist, innerhalb des gesamten Bereichs zu arbeiten. Auch in einem anderen Fall vor dem Europäischen Patentamt war es nicht möglich die Neuheit durch die Auswahl zu begründen. In diesem Fall ging es um eine spezielle stereotypische Form. In einer Vorveröffentlichung wurde diese Form eines darin der Strukturformel nach beschriebenen Stoffes zwar nicht ausdrücklich erwähnt. Jedoch erwies sich diese Form unerkannterweise als zwangsläufiges Ergebnis eines von mehreren in der Vorveröffentlichung hinreichend durch Angabe des Ausgangsstoffes und der Verfahrensmaßnahmen beschriebenen Verfahrens.

Es wurde weiterhin festgestellt, dass es bei einer bestimmten in der Vorveröffentlichung offenbarten Verfahrensvariante zu einer Veränderung des Verhältnisses zwischen der obigen Form und einer anderen Form von ungefähr 1:1 hin zu 90:1 kam. Dies wurde vom Europäischen Patentamt jedoch als eine für die Neuheitsschädlichkeit unbeachtliche und unerwartete Erkenntnis über ein bekanntes Verfahren gewertet. Schließlich lehnte das Europäische Patentamt die Neuheit auch in einem Fall ab, in dem ein Verfahren zur Herstellung einer Klasse von Verbindungen vorbeschrieben war. Die Mitglieder dieser Klasse sollten eine beliebige Kombination jeweils innerhalb bestimmter Zahlenbereiche liegender Werte von Parametern haben. Außerdem war es einem Fachmann möglich, anhand dieser Lehre alle Mitglieder dieser Klasse von Verbindungen herzustellen. Das Europäische Patentamt sah in dieser Entscheidung keine Abweichung vom Grundsatz der Auswahlerfindung. Im Fall seien nämlich alle Mitglieder der Klasse der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Jedoch sei ein Anspruch auf eine Klasse von Verbindungen, die sich mit der Beschriebenen überschneidet, nicht neu.

Eine spätere Entscheidung des Europäischen Patentamts vermag die hier dargestellte Praxis in Frage zu stellen. In dieser Entscheidung wurde dargelegt, dass nach dem Europäischen Patentübereinkommen Patente nicht deshalb erteilt würden, weil sie eine Auswahl betreffen. Vielmehr komme die Erteilung eines Patents nur für neue und erfinderische Gegenstände einer konkret definierten Art in Frage. Daher bestehe nach Ansicht des Europäischen Patentamts kein Unterschied grundsätzlicher Art zwischen der Entscheidung über das Vorliegen der Neuheit in Fällen der sogenannten Überschneidung oder der Auswahl und in anderen Fällen. Das Europäische Patentamt ist der Ansicht, dass in einem Fall, in dem sich der in einer Anmeldung oder in einem Patent beanspruchte Bereich eines bestimmten Parameters mit dem im Stand der Technik offenbarten Bereich dieses Parameters überschneidet, geprüft werden müsse, ob der Fachmann es aufgrund der technischen Gegebenheiten ernsthaft in Betracht ziehen würde, die technische Lehre des zum Stand der Technik gehörenden Dokuments im Bereich der Überschneidung anzuwenden. Sofern dies mit einer hinreichend großen Wahrscheinlichkeit bejaht werden könne, sei darauf zu schließen, dass es an der Neuheit mangele. Würde der Fachmann jedoch durch eine begründete Feststellung in jenem Dokument davon abgehalten, die dort offenbarte Lehre in einem Teil dieses Bereich auszuführen, so sei zumindest dieser Teilbereich als neu anzusehen.

Unterschiede zur Rechtsprechung deutscher Gerichte

Sowohl des Bundespatentgericht als auch der Bundesgerichtshof lehnen es ausdrücklich ab, in Fällen der Überschneidung oder Deckung eines numerisch definierten Bereichs mit einem bereits bekannten weiteren Bereich, die Neuheitsschädlichkeit in Abhängigkeit davon zu beurteilen, ob ein Fachmann es ernsthaft in Erwägung ziehen würde, die technische Lehre des bekannten Dokuments im Deckungs- und Überschneidungsbereich anzuwenden. Diese Ansicht steht im Einklang mit dem Grundsatz, dass Voraussetzung für die Neuheitsschädlichkeit einer Information lediglich die Möglichkeit der Kenntnisnahme für einen Fachmann ist. Die nach diesem Maßstab feststehende Zugänglichkeit einer Information könne nicht allein deshalb in Frage gestellt werden, weil ein Fachmann diese vielleicht nicht benutzt hätte. Nunmehr hat allerdings auch die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts entschieden, dass die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses der Öffentlichkeit unabhängig davon zugänglich ist, ob ein Fachmann bestimmte Gründe für eine Analyse hat. Demnach wäre es nur konsequent, auch in den Fällen der Deckung und Überschneidung die Zugänglichkeit unabhängig vom mutmaßlichen Verhalten eines Fachmanns zu bestimmen.

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